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Die THTR-Rundbriefe aus 2004

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THTR Rundbrief Nr. 91 Juli 2004


Die HTR-Linie in Russland gestern und heute

Auferstanden aus Ruin(en)

Vor 50 Jahren floss am 26. Juni 1954 zum ersten mal auf der Welt in dem Atomkraftwerk Obninsk in der Nähe von Moskau Atomstrom in ein öffentliches Stromnetz. Grund genug für die Internationale Atomenergieagentur (IAEA) auf der Jubiläumskonferenz in Moskau mit mehreren hundert Wissenschaftlern hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen. Und wo diese Hoffnung sich mit handfesten wirtschaftlichen Interessen verbindet, ist auch die HTR-Lobby nicht weit.

Reichlich unkritisch betet Christopher Schrader auf der Wissenschaftsseite der "Süddeutschen Zeitung" am 30. 6. 2004 die immer gleiche Litanei herunter: "Inhärente Sicherheit hingegen besitzt der Hochtemperatur-Reaktor. ‚Den kann man so konstruieren, dass er bei einem Ausfall der Kühlung ausgeht und die Nachwärme von selbst abfließt‘, sagt Christopher Wesselmann vom Verein VGB Power Tech. Der stillgelegte deutsche Reaktor mit dieser Technik in Hamm-Uentrop war zu groß, um inhärent sicher zu sein, doch Firmen in Südafrika entwickeln kleinere Modelle. Ungelöst wiederum: das Abfall-Problem."

Hinter "VGB Power Tech" steckt die altbekannte "Vereinigung der Großkraftwerksbetreiber" aus Essen Das sind seit Jahrzehnten HTR-Förderer. Es ist schon frappierend, wie mit der banalen Zauberformel "wegen physikalischer Naturgesetzmäßigkeiten ist kein GAU möglich" jedes kritische Denken bei Journalisten zum Stillstand gebracht werden kann; ein kritischer Leserbrief hierzu wurde nicht abgedruckt. Das alles kennen wir noch aus den 70er Jahren.

Die UdSSR betrieb seit dieser Zeit ihr eigenes HTR-Forschungsprogramm1. Bereits im März 1976 vereinbarte die Regierung mit den Firmen Brown, Boveri & Cie AG (BBC) und Hochtemperatur-Reaktorbau GmbH (HRB) eine Zusammenarbeit. Die FAZ schrieb am 13.04.1976 in "Blick durch die Wirtschaft": "Die sowjetische Seite möchte in zunehmendem Umfang mit der deutschen Industrie auf diesem Gebiet kooperieren, weil sie den Hochtemperatur-Reaktor für einen der zukunftsträchtigsten Reaktoren ansieht." "Zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit kam es jedoch nicht", stellte Ulrich Kirchner in seinem Buch "Der Hochtemperaturreaktor"2 fest.

Demgegenüber war die Sowjetunion immerhin Mitglied einer Kommission der Internationalen Atomenergie Agentur (IAEA), die seit 1977 speziell zur HTR-Technologie arbeitete3. Vorsitzender der Kommission, an der damals insgesamt dreizehn Länder mitarbeiteten, war jahrelang der Russe Konstantinnow, der bis in die 80er Jahre auf diesem Gebiet tätig war. Das Interesse der Sowjetunion hielt in der Folgezeit an. "Die HTR-Kooperation stand auch in den folgenden Jahren regelmäßig auf der Tagesordnung. So bei der Jahrestagung der gemeinsamen Wirtschaftskommission der BRD und der UdSSR 1980 wie auch beim Bonner Besuch des sowjetischen Staats- und Parteichefs Breschnew 1981."4

Am 21.01.1986 meldete der "Westfälische Anzeiger", dass ein Entwicklungskonsortium unter Federführung der Innotec (Essen) mit der SU aussichtsreiche Verhandlungen über den Export des HTR 100 führt. An Innotec waren BBC, Hochtemperatur-Reaktorbau, Deutsche Babcock Maschinenbau, Mannesmann-Anlagenbau und Strabag Bau AG beteiligt. Innotec-Gründer und –Eigentümer Karlheinz Bund, damals Ruhrkohle-Chef, trieb das HTR-Projekt persönlich voran. Der SU wurden Finanzierungshilfen, Betriebsmanagement und Personalausbildung angeboten. Für die 35 Millionen DM Entwicklungsarbeiten sollte zu 70 Prozent der deutsche Steuerzahler aufkommen. Zu Beginn des Jahres 1987 wurden die Verhandlungen zwischen Innotec und der SU erfolgreich abgeschlossen.

Eine sowjetische Delegation besichtigte am 5. April 1987 den THTR in Hamm-Uentrop, der allerdings bezeichnenderweise gerade abgeschaltet war, weil die Genehmigungsbehörde wegen defekter Leitungen mal wieder eine Überprüfung angeordnet hatte. Der WA schrieb am 06.04.1987: "Die sowjetische Delegation zeigte sich besonders interessiert an den Kosten des Kernkraftwerkes. Ihre Fragen zielten auch in Richtung Strahlenbelastung ...."

Trotz THTR-Pleite – künstliche Euphorie der Lobbyisten

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Nachdem eine weitere sowjetische Expertengruppe am 22. April 1987 den THTR besichtigte, ließ es sich der UdSSR-Botschafter Kwizinski aus Bonn nicht nehmen, ebenfalls einen Tag später persönlich in Hamm-Uentrop vorbeizuschauen. Allerdings mussten ausgerechnet jetzt am abgeschalteten Reaktor ein Teil der maroden Schweißdrahtbereiche an den Leitungen ausgewechselt werden. Die HTR-Lobbyisten verloren zu diesem Zeitpunkt jeglichen Sinn für die Realität und posaunten, nachzulesen am 23.04.1987 im WA, hinaus: "In einem ZDF-Interview zeigte sich ein Sprecher des Herstellerkonsortiums zuversichtlich, möglicherweise schon bald Kaufverträge in Milliardenhöhe für 10 weitere 100-Megawatt-Reaktoren mit Moskau abschließen zu können." Schon einen Tag später schreibt "Die Zeit" besorgt: "Mit dem Abschluss des Vorvertrages ist freilich noch nicht entschieden, ob der Auftrag dann auch an das von Innotec geführte Konsortium vergeben wird. Offenbar will die KWU noch mitmischen. Die Erlanger Siemenstochter verhandelt gleichfalls mit den Russen über eine Kooperationsmöglichkeit auf dem HTR-Sektor." Weiterhin weist die Wochenzeitung auf die militärische Relevanz der HTR-Linie hin. Die USA könnten bei einem deutschen Export in die Sowjetunion ein Veto einlegen, da dieser unter die CoCom-Liste fallen könnte.

Nachdem BBC und Innotec-Konkurrent KWU (Siemens) Ende 1987 ebenfalls eine Vereinbarung mit der SU über eine Zusammenarbeit bei dem Bau von kleineren Modul-HTR`s unterschrieben hatte, unterzeichneten BBC und HRB im März 1988 ihrerseits mit der SU eine weitere Vereinbarung für die Zusammenarbeit beim Bau von 500 MW-HTR´s. Die Ruhr-Nachrichten brachten am 12.03.1988 euphorisch die Schlagzeile: "Der HTR erobert die Welt" und hofften auf eine Trendwende bei der Ausstiegsdebatte kurz nach der Katastrophe von Tschernobyl: "Der beginnende weltweite Siegeszug der Hochtemperaturreaktoren fördert möglicherweise auch eine Neubewertung dieser High Tech durch die NRW-Sozialdemokratie."

Durch diese Entwicklung ziemlich beunruhigt, schrieb ich als GAL-Ratsherr für diese Ratsfraktion am 01.08.1988 einen offenen Brief an die Botschaft der UdSSR und an die damals für eine kurze Zeit in deutsch erscheinende "Prawda" und machte auf die Gefahren und aktuellen Störfälle beim THTR aufmerksam. Der WA titelte am 04.08.1988: "GALlier testen Glasnost." Ergebnis negativ, keine Reaktion.

Am 12.09.1988 besuchte der Forschungsminister Riesenhuber in Hamm-Uentrop die 220köpfige Belegschaft des THTR und machte ihr angesichts der kritischen energiepolitischen Diskussion Mut: "Größte Beachtung werde derzeit von der Sowjetunion der deutschen HTR-Technik gezollt, die durch ihre erwiesene Sicherheit überzeugen könne, meinte Riesenhuber. Diese Verhandlungen seien deshalb besonders aussichtsreich, weil die Sowjets die Anzahl ihrer Kernkraftwerke noch verfünffachen wollen, so Riesenhuber."5

Angesichts der sich abzeichnenden immer größer werdenden Probleme beim Betrieb des THTR´s drohte der Atomindustrie die Zeit davonzulaufen. Entweder es gelänge ihr innerhalb kurzer Zeit ein Exporterfolg oder aber viele Nukleartechniker müssten ihren Job wechseln.

Kohl in Moskau, Pleite folgt

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Am 24.10.1988 erwies sich Bundeskanzler Helmut Kohl als Retter in der Not, denn bei seinem Besuch in Moskau wurde – als großes Medienereignis gefeiert – ein Generalvertrag über die Lieferung des Modul-HTRs in die SU unterzeichnet. Beteiligt war ein Firmenkonsortium aus Siemens/KWU und ABB. Der 200 MW-HTR sollte in Dimitrowgrad beim Kernforschungszentrum Niiar 1000 Kilometer östlich von Moskau gebaut werden6. In dem Medienrummel ging allerdings unter, dass dieser Rahmenvertrag noch keine Auftragsvergabe darstellte, zwei Jahre weitere Vorarbeiten notwendig sein würden und dass die Sowjets den Großteil der Arbeiten lieber selbst durchführen wollten und am Ende nur magere 400 Millionen DM für die deutschen Konzerne abfallen sollten.

Es kam aber noch schlimmer. Ulrich Kirchner schrieb dazu: "Schon Anfang des nächsten Jahres standen die Verhandlungen etwa vier Wochen still. Bis zum Mai 1989 konnte eine konkrete Ausarbeitung des Umfangs der westdeutschen Beteiligung bei der Planung der Versuchsanlage nicht erzielt werden. Von den vier Detailverträgen zum Generalvertrag wurde der zweite, der im März 1989 hätte unterzeichnet werden sollen, nicht paraphiert. Als der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow dann im Juni 1989 seinen Gegenbesuch in der BRD abstattete, bei dem die weiteren Modalitäten ausgehandelt werden sollten, spielte dieses Projekt keine Rolle mehr; die Medien schwiegen sich hierüber aus."7

Darüber hinaus betont Kirchner in seinem Buch noch einmal die militärpolitische Dimension des HTR-Projektes, indem er auf den Osteuropa-Berater des späteren US-Präsidenten Bush verweist, der eine allzu bereitwillige Belieferung der SU mit nuklearer Spitzentechnik ablehnte, da dies zu einer militärischen und strategischen Stärkung des Ostblocks geführt hätte. "Der HTR-Auftrag galt als der ‚heikelste deutsche Ost-Deal‘"8.

In Deutschland wurde zu dieser Zeit im hannoverschen Umweltministerium das standortunabhängige Genehmigungsverfahren für HTR-Module durchgeführt (das später abgebrochen wurde). Unter Ausschluss der Betroffenen sollten in den Ballungsgebieten Deutschlands diese kleinen Atomkraftwerke gebaut werden können. Im Januar 1989 wurde bekannt, dass praktischerweise die erste deutsche Prüfstelle für atomtechnische Anlagen vom TÜV Hannover in der UdSSR errichtet werden soll. "Die als Dauereinrichtung vorgesehene Stelle wurde der sowjetischen Regierung im Zusammenhang mit dem Vertrag über die gemeinsame Entwicklung und Errichtung neuer Hochtemperaturreaktoren für die Strom- und Wärmeerzeugung von deutscher Seite vorgeschlagen und von den sowjetischen Vertragspartnern gutgeheißen"9.

Zwei Monate, nachdem auch die DDR Interesse an dem Kauf eines westdeutschen HTRs bekundet hatte, befasste sich "Unsere Zeit", Zeitung der Deutschen Kommunistischen Partei, am 16.01.1989 in einem längeren Artikel kritisch mit dem HTR.

Am 12.05.1989 berichtete "Die Zeit" von erneuten Schwierigkeiten bei der deutsch/sowjetischen Zusammenarbeit: "Die Verhandlungen mit den Sowjets erweisen sich als ‚schwierig und zäh‘, vor allem wegen der Devisennöte in der UdSSR, wie Siemens-Sprecher wissen. Deshalb versuchen die sozialistischen Unterhändler mit allen Argumenten den Preis zu drücken. Die HTR-Stillegung in Hamm-Uentrop kommt ihnen deshalb gar nicht ungelegen." Lothar Hahn beschreibt die schwierige Lage der deutschen Atomkonzerne so: "Unter dem Zwang, eine Referenzanlage zu bauen, haben diese sich jedoch bereiterklärt, auf die Kompensationsgeschäfte einzugehen"10.

Im Mai 1989 wurde von den ehemaligen Konkurrenten ABB und Siemens aufgrund des enger gewordenen Marktes die Hochtemperaturreaktor GmbH (HTR) gegründet. Diese verfolgte als Anlagevarianten den HTR 500, HTR-Module und den GHR 10. "Die HTR-GmbH wird auch in die Rechte und Pflichten aus dem Generalvertrag mit der UdSSR eintreten. Die Inbetriebnahme der sowjetischen HTR-Modul-Anlage ist im Jahre 1996 geplant."11

Doch sehr euphorisch klang die Atomindustrie bereits Anfang Juni 1989 angesichts der sich abzeichnenden Stillegung des THTR nicht mehr: "Durch geduldige Überzeugungsarbeit gelang es aber den deutschen HTR-Fachleuten, die Russen davon zu überzeugen, dass diese Diskussion nicht technisch, sondern politisch bedingt ist. (...) So gilt es denn zunächst einmal für einige Jahre, die HTR-Technologie über eine ‚Überwinterungsphase‘ zu retten."12

Nachdem am 16. August 1989 die endgültige Stillegung des THTR von der NRW-Landesregierung bekanntgegeben wurde, hatte dies auch weitreichende Folgen für den Export der HTR-Linie.

Am 01.09.1989 verkündete der ABB-Sprecher Rumber in der WAZ zum Reaktorgeschäft mit der SU :"Es kann sein, dass der Vertrag jetzt nicht zustande kommt." Am 5. 9. ließ VEW-Chef Knizia noch einmal all seine Beziehungen spielen und lud den Energie-Club der sowjetischen Akademie der Wissenschaften für das nächste Jahr ins Ruhrgebiet ein13.

Ebenfalls im September 1989 musste die Atomindustrie nach dem vielbeachteten Generalvertrag von 1988 ausgerechnet in dem Industriemagazin "Sieg Tech" die tendenzielle Niederlage ihrer Expansionsgelüste einräumen: "Nunmehr wären die Hersteller schon froh, wenn sie in einem ersten Schritt aus diesem Vertrag ein Auftragsvolumen von 100 Millionen DM erzielen könnten."14 Die Konsequenz: Ein Notprogramm zur "Überbrückung einer fünf bis sechsjährigen Durststrecke" zur Rettung der HTR-Linie wurde den Energieversorgungsunternehmen vorgeschlagen. Wie sich später herausstellen sollte, hat es letztendlich tatsächlich funktioniert.

Am 15.09.1989 äußerte sich Interatom in den VDI-Nachrichten konkreter über die schwierige Verhandlungssituation: "Die Sowjets nutzen das Manko, dass hierzulande kein funktionierender Hochtemperaturreaktor als ‚Vorzeigemodell‘ steht, um die Preise zu drücken. Sie verlangen Abschläge dafür, dass im Falle eines erfolgreichen Baus und Betriebs in der UdSSR die HTR-Gesellschaft den Reaktor anderen Kunden demonstrieren könnte. (...) Die sogenannte Projektierungsphase hatte Interatom mit 90 Mio. DM veranschlagt. Die sowjetische Seite will jedoch nur ein Drittel der Summe bezahlen."

Gemeinsame HTR-Konferenz Grüne/KPdSU in Moskau

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Vom 17. bis 24. September fand in Moskau ein gemeinsames Seminar von bundesdeutschen Grünen und KPdSU zur Atomkraft statt. Auf sowjetischer Seite nahmen einerseits hochrangige offizielle Vertreter der SU und Mitglieder ökologischer Gruppen teil. Auf deutscher Seite waren auch das Öko-Institut (u. a. Lothar Hahn) und Bürgerinitiativen anwesend. Neben der Tschernobyl-Katastrophe nahm die Diskussion über die HTR-Linie einen breiten Raum ein: "Angeschnitten wurde die Möglichkeit der militärischen Nutzung eines HTR-Modul. Wird dem Graphit der Brennelemente über den unvermeidbaren Anteil hinaus Lithium zugesetzt, dann kann eine gezielte Gewinnung von Tritium, ein begehrtes Atombombenmaterial erreicht werden.

Die Argumentation der sowjetischen Wissenschaftler war stark von einer abstrakt-physikalischen Betrachtung einzelner Fragen geprägt. Dazu gehört u. a. die Vorstellung, der HTR-Modul sei ‚sicher genug‘ wegen der ‚Naturgesetzlichkeit‘ durch die Wärmeabfuhr aus dem Reaktorkern ins Reaktorgebäude und von dort nach außen gewährleistet sei.

Die Beziehungen der sowjetischen Wissenschaftler zur KFA Jülich werden in dieser Argumentationsweise deutlich. Anscheinend haben sie praktisch-technische Probleme, die sich erst beim Betrieb einer Anlage herausstellen und im Dauerleistungsbetrieb eine ausschlaggebende Rolle spielen, kaum beachtet. (...)

Als Diskussionspartner hatten sie (die sowjetische Seite, RB) vorher ausschließlich Vertreter anderer Atom-Institutionen kennengelernt, darunter vor allem die KFA Jülich. So ist es zu erklären, dass sie andere als großtechnische Lösungen für die Energieproduktion bisher nur als ‚technische Spinnerei‘ und Widerstandsbewegung gegen Atomtechnik als ‚emotionale Verwirrung‘ wahrgenommen hatten. Die direkte Begegnung mit ökologisch orientierten Wissenschaftlern war ihnen bis dahin genauso unbekannt wie die mit den oppositionellen Bewegungen in der Sowjetunion selbst."15

HTR: Vorläufiges Aus

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Am 5. Februar 1990 berichteten die VDI-Nachrichten: "Die bundesdeutsche Kraftwerksindustrie rechnet vorerst nicht mit dem Bau eines Hochtemperaturreaktors in der Sowjetunion. Nach Angaben von Dr. Manfred Simon, Vorstandsmitglied der ABB Mannheim, dürfte das Projekt zunächst nicht realisiert werden. Die Gründe liegen in geänderten Prioritäten in der sowjetischen Energiepolitik sowie in einer Anti-Kernkraft-Welle in einigen Landesteilen. Entscheidend seien jedoch die fehlenden Finanzmittel. Und die Stillegung des Prototypen THTR-300 in Hamm-Uentrop sei auch nicht gerade für das Projekt förderlich gewesen."

Ende 1990 versuchten die HTR-Lobbyisten aus der Defensive herauszukommen, indem sie folgendes 400-Seiten Buch zum Preis von 128 DM herausgaben: "AVR – Experimental High-Temperature Reactor". In einer Besprechung heißt es: "35 anerkannte Ingenieure und Naturwissenschaftler berichten in dem englischsprachigen Buch über die Betriebsergebnisse und die Zukunftsperspektiven des gasgekühlten Hochtemperaturreaktors. Da die Zukunft des Hochtemperaturreaktors in der Bundesrepublik derzeit ungewiss ist, soll mit der englischen Buchausgabe das Wissen um diese in der Bundesrepublik entwickelte fortschrittliche Energietechnik im englischsprachigen Ausland verbreitet werden. Die VDI-Gesellschaft Energietechnik als Herausgeber möchte mit diesem Buch einen Beitrag leisten zu einem zukünftig verstärkten Einsatz des HTRs bei der Energieversorgung im In- und Ausland."16

Bereits am 25. April 1991 bastelte VEW-Chef Knizia an seiner modernen Dolchstoßlegende, bei der die großartige internationale Zukunft des HTRs im eigenen Land zunichte gemacht wurde: "Knizia beklagte, dass man den Hochtemperaturreaktor ‚abgewürgt‘, also Kapital vernichtet habe, obwohl nichts notwendiger sei als Investitionskapital."

Im Mai 1991 schrieb die "Atomwirtschaft" (atw) bedauernd, dass es nicht gelungen sei, "ein konkretes Projekt in Auftrag zu nehmen. Auch für die nächste Zukunft werden dafür nur geringen Chancen gesehen. Aus diesem Grunde haben sich die beiden Muttergesellschaften entschlossen, ihre HTR-Aktivitäten zu reduzieren. Sie wollen aber das Know-how erhalten, um jederzeit darauf zurückgreifen zu können."

Auf dem Kongress der Internationalen Atomenergie-Organisation vom 24. bis 27. Juni 1991 in Wien wurde intensiv über HTR-Projekte in Japan, China, Indonesien, USA, Polen und Deutschland diskutiert. Professor Schwarz von den VEW berichtete über den sowjetischen Beitrag: "V. N. Grebennik vom Moskauer Kurt-Schatow-Institut berichtete über Fortschritte bei der Planung der sowjetischen HTR-Baulinie, des modularen Kugelhaufenreaktors VGM, und gab die dafür zugrunde gelegten sicherheitstechnischen Rahmenbedingungen an."17

Ab jetzt fällt der Vorhang für uns Normalbürger und wir wissen nicht, was in den folgenden sieben Jahren hinter den Kulissen passiert ist....

Neubeginn: HTR soll mit Waffenplutonium arbeiten

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Im Jahre 1998 gab das Forschungszentrum Jülich (FZJ) das Buch "Nutzung von Plutonium im Kugelhaufen-Hochtemperaturreaktor" von Mikhail Khorochev heraus. Das FZJ schreibt über den Inhalt der 107 Seiten folgendes: "In der vorliegenden Arbeit wird der Einsatz von Waffen- und Reaktorplutonium in Hochtemperaturreaktoren mit kugelförmigen Brennelementen behandelt. Als Anwendungsbeispiel wird eine modulare Anlage mit einer Leistung von 350 MWth im Detail untersucht. Das Ziel der Arbeit bestand darin, die Möglichkeiten und Grenzen für einen effektiven Abbrand von Plutonium in Kugelhaufenreaktoren kennen zu lernen. (...) Aus der Übersichtsstudie wurden zwei Referenzfälle hergeleitet, einer für den Einsatz von Reaktorplutonium in Verbindung mit Uran, der andere für Waffenplutonium in Verbindung mit Thorium als Brutstoff. Mit beiden Referenzzyklen lässt sich nachweisen, dass das Konzept des HTR-350-Modulreaktors ein sehr gutes Instrument zur Beseitigung beider Plutoniumarten darstellt."

Am 3. August 1999 wird der Hintergrund dieser Forschungsarbeit des FZJ näher in einer Pressemeldung beleuchtet und wir erfahren erstaunliche Dinge. Der französische Reaktorbaukonzern "Framatome beteiligt sich im Rahmen eines internationalen Konsortiums an der Entwicklung und dem späteren Bau einer neuen Generation von Minireaktoren. Sie sollen eine Leistung von ‚nur‘ 250 bis 300 Megawatt erhalten. Die Mitglieder des Konsortiums sind neben der Framatome die federführende amerikanische General Atomics in Assoziierung mit dem US-Energieministerium, die russische Atomenergiebehörde Minatom und die japanische Gruppe –Fuji Electric.

Bei dem Projekt, dessen technische Strukturen und Merkmale jüngst in Paris den Partnern des anspruchsvollen Vorhabens vorgestellt wurden, handelt es sich um eine Neuentwicklung von Hochtemperaturreaktoren mit der Modellbezeichnung GT-MHR (Gas Turbine-Modular Helium Reactor).

Nach Framatome haben die vier Partner in Paris beschlossen, die schon des längeren unternommenen Vorarbeiten für das Vorhaben weiter voranzutreiben. Der durch Helium zu kühlende Reaktor GT-MHR soll sich als besonders nützlich erweisen, da er außer Uranium auch das gefährliche Plutonium verbrennen kann.

Nach Dominique Vignon, dem Chef von Framatome, wird der Reaktor GT-MHR alle Merkmale und Fähigkeiten besitzen, um sich 2010 mit Produkteinheiten für thermische und elektrische Energie von mittlerer Leistungsstärke technisch und wirtschaftlich auf dem Weltmarkt durchzusetzen. (...) Nach Framatome dürften die Kosten für die Entwicklungsstudien des GT-MHR auf etwa 320 Millionen Dollar zu stehen kommen. Für den Bau des Prototyps wären 400 Millionen Dollar erforderlich und für den ersten Reaktor im Serienbau 300 Millionen. Der erste GT-MHR soll von oder für Russland in Sibirien gebaut werden. Nach russischen Berechnungen würde dieses Projekt jedoch 730 Millionen Dollar kosten."18

In der Zeit vom 01.05.1999 bis zum 30.04.2001 arbeiten im Rahmen eines Forschungsprojektes der Universität Stuttgart die Wissenschaftler Kübler und Schmidt an dem Gas Cooled HTR Network (GHTRN), um die bestehenden Sicherheitsmerkmale dieser Linie auszuarbeiten und zu dokumentieren.19

Im Juni 2001 wurde in Moskau auf der ISTC-Konferenz (Internationales Wissenschaftlich-Technisches Zentrum; diese Organisation wird nach Angaben von "Russland aktuell" hauptsächlich von den USA finanziert) das HTR-Netzwerk vorgestellt und eine Kooperation mit dem bereits 1991 genannten russischen Kurchatow Institut und mit der OKB (Versuchskonstruktionsbüro; offensichtlich Teil des militärisch-industriellen Komplexes) angebahnt.

Im August-September 2001 berichtet der altbekannte HTR-Freund Chrysanth Marnet (AVR, siehe RB Nr. 88) in seinem Artikel über den HTR-Kongress in Peking vom 19. bis 21. März 2001 über den geplanten russischen GT-MHR: "Man hofft im nächsten Jahr auf die Entscheidung, die Planungen in die Tat umzusetzen."20

Im Mai 2002 wird die Umwandlung von Plutonium in dem Konzept "Western Option" näher beschrieben und ein Zeitplan bis zum Jahr 2026 aufgestellt: "Die vorliegende Studie basiert auf einer Vereinbarung zwischen der russischen Föderation und den Vereinigten Staaten von Amerika vom September 2000. Vorgesehen ist demnach die Umwandlung von jeweils 34 t Waffen-Plutonium in beiden Staaten, ein Ziel, das auch von weiteren G-8 Staaten unterstützt wird. Während die USA ihren Teil der Verantwortung erfüllen, ist das russische Programm auf finanzielle Unterstützung westlicher Staaten angewiesen. Von Expertengruppen sind als Basis-Szenario bezeichnete Optionen aufgezeigt worden. Für deren Umsetzung konnten die erforderlichen Mittel in Höhe von ca. 2 Mrd.US-$ bislang nicht aufgebracht werden. (...) Die Attraktivität der Western Option liegt auch in ihren finanziellen Vorteilen, die mit etwa 1 Mrd. US-$ veranschlagt werden."21

Im Juli 2002 wurde in einem Bericht über die HTR-Konferenz in Petten/Niederlande vom 22. bis 24. April 2002 über die russischen Pläne berichtet: "Der erste GT-MHR mit 600 MWth soll nicht später als 2010 errichtet und die baureifen Pläne sollen 2005 fertig sein. Die Gesamtkosten wurden mit 355 Mio. US-$ beziffert. Der Einsatz von Plutonium als HTR-Brennstoff bringt reaktorphysikalisch keine Probleme mit sich. Dies wurde jetzt auch von französischer Seite (Cogema/CEA) bestätigt."22

Der wissenschaftliche Ergebnisbericht 2002 vom Forschungszentrum Jülich (FZJ) nennt unter Aufgaben und Ziele seine Forschung für die "weitest gehende Minimierung und Umwandlung von Plutonium."

Für die nukleare Zusammenarbeit der letzten Jahre bis heute im Jahre 2004 nennt das FZJ auf ihrer Homepage folgende russische Partner:

NSI = Studien zu Sicherheitsanforderungen für Kernkraftwerke.

OINPE = Entwicklung von theoretischen Methoden in der Kernphysik.

RRC-KI = Beurteilung der Stabilität von ‚coated particles‘ (in HTR-Brennelementkugeln, RB) in hypothetischen Störfällen mithilfe von Experimenten zu schnellen Transienten.

Akademie der Wissenschaften = Prozess- und Komponententechnik sowie sicherheitstechnische Verbesserung nuklearer Anlagen.

Horst Blume

Anmerkungen/Quellenangaben:

1 Lothar Hahn: "Beurteilung der in- und ausländischen Konzepte für kleine Hochtemperaturreaktoren", 1990, S. 2 - 19

2 Ulrich Kirchner "Der Hochtemperaturreaktor. Konflikte, Interessen, Entscheidungen", Campus Forschung, 1991, Seite 176

3 Anna Masuch "HTR-Politik in der Sowjetunion", 1990

4 "AK", 14.11.1988, Seite 8

5 Ruhr-Nachrichten, 13.09.1900

6 TAZ, 24.09.1988

7 Kirchner, siehe oben, S. 177

8 Spiegel 1988, Nr. 42, S. 136, zitiert nach Kirchner S. 178

9 Hannoveraner Allgemeine Zeitung, 12.01.1989

10 Hahn, siehe oben, S. 2- 20

11 WAZ, 01.08.1989

12 "Sieg tech", 10/89, S. 13

13 WAZ, 06.09.1989

14 "Sieg tech", 18/89, S. 19

15 Anna Masuch: "Zur HTR-Politik in der Sowjetunion"

16 BWK, Jan/Febr. 1991

17 VGB-Kraftwerkstechnik 12/1991

18 Aargauer Zeitung vom 03.08.1999, zitiert nach aaa Nr. 105, ebenfalls in THTR-RB Nr. 63

19 www.ike.uni-stuttgart.de

20 atw 8/9, 2001

21 atw 5, 2002

22 atw 7, 2002

Liebe Leserinnen und Leser!

Diese Ausgabe ist ausnahmsweise nur einem einzigen Thema (Russland) gewidmet. Es sind noch viele andere Dinge passiert, die den HTR betreffen. Unter aktuelles ist nachzulesen, welche Forschungsarbeiten konkret vom Forschungszentrum Jülich seit 1998 unter Rotgrün durchgeführt wurden und wie die einzelnen Forschungsbereiche einzuordnen sind. In der nächsten Rundbriefausgabe, die schon bald erscheinen wird, ist dies dann auch auf Papier zu lesen.

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